Ortsgedächtnis II.
In jener Ortschaft herrscht der Brauch, daß man am zehnten Februar hinausgeht in die Felder, um der Jugend eine Lehre zu erteilen, die sie nicht vergißt. Aus jedem Haus holt man die jungen Leute, Mädchen, Buben, und nimmt sie mit. Sie müssen, ob sie wollen oder nicht. Die meisten aber gehen gern; es gibt an diesem Tag Geschenke, sie kriegen neue Jacken, neue Mützen, kleine Anstecknadeln, man kocht für sie ein Lieblingsgericht. Manche dürfen erstmals rauchen. So zieht der ganze Pulk zum Dorf hinaus, die Alten mit Spazierstöcken und schwarzen Hüten, die Jungen noch ein bißchen ungelenk, die engen Kragen zwicken, es weht ein kalter Wind... Die Alten scherzen unterwegs, erzählen Anekdoten; manchmal werden Lieder angestimmt. Die Jungen trotten hinterdrein... Der Zug geht bis zur Grenze der Gemarkung, wo der Bann an den der Nachbarn stößt. Dort sind die Steine in den Boden eingegraben, lange Steine aus Basalt. Die Alten stellen sich im Kreis. Man schiebt die Jungen in die Mitte. Man packt sie bei den Haaren und stößt sie mit den Köpfen auf die Steine. Die jungen Leute seufzen, stöhnen. Es fließen Tränen, bei einigen fließt Blut. Sie reiben sich die Stirn; sie lachen, um den Schmerz zu bannen. So fängt es an. So werden sie mit einem Schlag erwachsen. So verbindet sich die Pein auf immer mit Erinnerung: das Ortsgedächtnis, die Erschütterung. Das Hirn in seiner Flüssigkeit erzittert in der Knochenschale. Nicht nur der Stein, auch was darum liegt, brennt sich ein, wird eingestanzt, gepunzt in die Gehirnwindungen: Hier steht der alte Baum, dort fließt der Bach; der Acker hat die Form einer Giraffe, die Waldkante ist zwanzig Schritt entfernt, bei der Holunderhecke geht es in die weite Niederung hinab. Für alle Zukunft bleiben Blick, Gedanke und Gefühl an diesen Ort gekoppelt. Marksteine, Merksteine; Lesezeichen in der Landschaft... Taufsteine, wie der Volksmund sagt... Auf diese Weise wird das Gemeindeland umschritten; die Flurbegehung währt den ganzen Tag. Am Abend sitzt man beisammen in der verrauchten Gastwirtschaft. Jeder schreibt jedem was ins Poesiealbum. Die Alten lauschen der Musik. Die Jungen haben Ohrensausen. Das geht vorbei, wird ihnen zugeflüstert... - Wohl hat sich auch schon einer mal der Prozedur entzogen, ist ausgebüchst, hat sich versteckt, hat vom Baum oder vom Berg herab die anderen beobachtet, aus sicherer Entfernung; es ist natürlich nichts aus ihm geworden, er lief nur sinn- und ziellos durch die Gegend, er mußte schließlich fort...
(Auszug aus: Ortsgedächtnis I. - VI., erstveröffentlicht in: Ortsgedächtnis. Rheinland-Pfälzisches Jahrbuch für Literatur 6. Herausgeben von Sigfrid Gauch, Christine Ketelhut, Gabriele Weingartner. Verlag Brandes & Apsel 1999.)
